Endbericht – PowerGrid on the edge?

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Podiumsdiskussion im Wintersemester 2020

Unter dem Titel „Power grid on the edge?“ stellt der Verein der industriellen Energietechniker Leoben im Wintersemester 2020 ein neues Eventformat vor, mit dem auch in Zeiten von Corona der fachliche Austausch zwischen Industrie, Forschung und Studenten möglich gemacht wird. In dieser Podiumsdiskussion ging es um die Fragestellungen, ob unser Energienetz, wie es aktuell existiert, an der Grenze der Belastbarkeit steht, welche neuen Herausforderungen die große Steigerung an volatiler Erzeugung (Photovoltaik, Wind) mit sich bringt und in welche Richtung sich der Energiemarkt von morgen bewegt.

Zu diesen Leitfragen durfte der Verein der industriellen Energietechniker (ViET) am Abend des 
25. November 2020 zur Online-Diskussion bitten – und zwar mit hochkarätigen Gästen:

  • Gerhard Christiner – Technischer Vorstand (Austrian Power Grid) 
  • Alexander Kirchner – Geschäftsbereichsleiter „Asset Operations“ (Wien Energie)
  • Michael Haselauer – Vizepräsident (Österreichische Vereinigung für das Gas- und Wasserfach (ÖVGW))
  • Martin Graf – Vorstandsdirektor (Energie Steiermark)
  • Thomas Kienberger – Leiter des Lehrstuhls für Energieverbundtechnik (Montanuniversität Leoben)

Die Leitung des Events übernahmen ViET-Obmann Lorenz Hammerschmidt und sein Stellvertreter Jonathan Lunzer. Das Moderationsprinzip dieser Podiumsdiskussion wurde interaktiver gestaltet als ein einfaches Frage-Antwort-Spiel zwischen dem Moderator und dem jeweiligen Speaker: Jedem der vier Speaker aus der Industrie wurde eine Frage gestellt, zu der sie in Form eines kurzen Beitrags Stellung bezogen. Im Anschluss daran erläuterte Thomas Kienberger den Stand der Wissenschaft zu dem jeweiligen Thema und beleuchtete weitere Aspekte des Beitrags. Zum Schluss waren alle Mitglieder des Podiums und das Publikum dazu eingeladen, sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.

Gerhard Christiner, technischer Vorstand der APG, gab in seinem Beitrag einen Ausblick auf das Übertragungsnetz von morgen: 

„Das Energiesystem 2030 wird definitiv anders sein: wesentlich dezentralisierter und demokratisierter (…). Wir brauchen einen Aus-und Umbau des Stromnetzes um speziell den Anforderungen der Erneuerbaren (Ergänzung der Redaktion: Photovoltaik und Wind) zu genügen. Das Netz von heute ist für weitere neuinstallierte Leistung noch nicht fit. Vor allem die Bevölkerung muss von der Notwendigkeit der Maßnahmen (Netzausbau, neue Wind- und Solarparks) überzeugt werden.“ Die große Herausforderung neben dem Ausbau sei, dass das Netz intelligenter werden müsse. Neben physischen Maßnahmen im Betrieb wie z.B. Hochtemperaturseile und Sensorik, wird in der Instandhaltung vermehrt auf das „digital grid“ gesetzt (Stichwort: Big Data). „Der europäische Markt muss sich weiterentwickeln, (…) um kurzfristig, möglichst nahe zu real-time, handeln zu können, um auch Abweichungen aus Prognosen vermarkten zu können.“ Gleichzeitig muss auf genügend Flexibilität auf der Kundenseite geachtet werden.

Auf die Frage(n) hin, ob Gaskraftwerke im österreichischen Erzeugungsmix in Zukunft weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden und ob es Modellansätze für ein Energiesystem gäbe, in welchem auch kleine Erzeuger Energie ins Netz einspeisen könnten, antwortete Alexander Kirchner von Wien Energie:

Wie von Herrn Christiner bereits erwähnt, benötigt Volatilität Flexibilität. Diese kommt zu einem guten Teil von Gaskraftwerken – diese leisten einen unerlässlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit, zum Engpassmanagement und zum Netzwiederaufbau.“ 

In koordinierter Abstimmung mit dem Übertragungsnetzbetreiber (in Österreich die Austrian Power Grid (APG)) sind in Zukunft immer häufiger sogenannte Redispatch-Maßnahmen notwendig. Unter Redispatch versteht man die Anpassung der Leistungseinspeisung, um auftretende regionale Überlastungen (Engpässe) einzelner Betriebsmittel (v.a. Leitungen) zu vermeiden bzw. zu beseitigen. Gründe für diese immer häufiger zu treffenden Maßnahmen sind die derzeit noch begrenzten Speichermöglichkeiten, das unzureichend ausgebaute Stromnetz in Europa und die volatile Energieeinspeisung aufgrund der Erneuerbaren. 
83 % der Redispatch-Maßnahmen im Jahr 2020 wurden von Wärmekraftwerken (Dampf, Gas) abgehandelt. 

„Ziel war es immer, die Netze zu entlasten, aber die Botschaft an dieser Stelle ist, dass wir für den Ausbau der Erneuerbaren Stabilität brauchen. Stabilität, die derzeit die Gaskraftwerke liefern und auch in Zukunft noch liefern können, sofern wir sie noch in Betrieb haben. Wir benötigen sie als Schnellstarter, sozusagen als Backup, damit ein gutes Rückgrat für den Ausbau der Erneuerbaren vorhanden ist.“

Thomas Kienberger ergänzte, neben der Nennung des Vorteils der effizienten (Fern-)Wärmebereitstellung von Gaskraftwerken aufgrund der Kraft-Wärme-Kopplung, noch folgendes:

Für die Zukunft sehe ich, dass ebenfalls kleine Flexibilitätsanbieter Systemdienstleistungen bereitstellen können.“ 

Eine Frage aus dem Publikum wurde an dieser Stelle weiter diskutiert: „Können Engpässe der Versorgungslücken neben den Gaskraftwerken auch durch Batteriespeicher gedeckt werden?“ Martin Graf (Energie Steiermark) antwortete darauf: 

„Es wird auch regionale Engpässe geben. Somit wird es auch Möglichkeiten in Verbindung mit Batteriesystemen geben müssen. Derzeit probieren wir das mit einem Batteriespeicher in der Südsteiermark aus, bei der wir einige PV-Anlagen in einer Ortsnetzstation zusammengeschalten haben, welche in einen gemeinsamen Speicher einspeisen, welcher von Kunden abgerufen werden kann. Diese können in Zukunft natürlich mehr Stabilität ins Netz bringen.“

Alexander Kirchner erwiderte daraufhin, dass die Gasspeicher neben Batterie- und Pumpspeichern den größten Anteil der Speicherkapazität ausmachen.

mehr als 90 TWh, welche derzeit fossil gespeichert sind. Hier kommen neue Technologien zum Ansatz, die man genau betrachten muss, wie z.B. Power-to-Gas. Diese können sektorkoppelnd einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung des künftigen Energiesystems leisten.“

Dieses Thema spannte den Bogen zur nächsten Fragestellung des Abends, gerichtet an Michael Haselauer von der ÖVGW: In Anbetracht der Möglichkeit, dass der Trend bzw. Regierungsvorhaben auf eine Erdgasverbrauchsminderung in Österreich abziele – ist das Gasnetz Teil der Energieinfrastruktur der Zukunft? Michael Haselauer sprach sich klar für die Vorteile einer stabilen Gasinfrastruktur aus. In Zusammenhang mit dem Elektrizitätssektor meint er: 

„Schon wie zuvor angesprochen, gilt die ganz einfache Devise: „Use it or lose it!“ 

Damit ist gemeint, dass jegliche Energieüberschüsse z.B. für die Elektrolyse zur Wasserstoff-Herstellung eingesetzt werden können. Mit dem erzeugten Wasserstoff kann über die Methan-Synthese erzeugtes Erdgas in der vorhandenen Gasinfrastruktur gespeichert werden. Danach fiel der Fokus der Diskussion auf den derzeitigen Stand der eingesetzten Heiztechnologien in Österreichs Privathaushalten. In direkter Gegenüberstellung von Fernwärme-, Erdgas-, Holz / Pellets –, Öl-, und Wärmepumpenheizungen stach ein hoher Anteil an alten Ölheizungen hervor. 

„Eine der ganz großen Herausforderungen wird es, den Bestand an alten Ölheizungen zu ersetzen. Wir reden hier in Österreich von über einer halben Million. (…) Die Umstellung zur Gastherme als wesentliche Schlüsseltechnologie ermöglicht auch, diese Kunden (Ergänzung der Redaktion: mit alter Ölheizung) mitzunehmen, ohne sie vor wirtschaftlich unlösbare (Probleme) zu stellen.“ 

Darauf basierend verwies Michael Haselauer vor allem auf das Potential des Heizens mit sogenanntem „Green Gas“.

„Im Vergleich sieht man, dass Green Gas erneuerbar, nachhaltig herstellbar und vielseitig aufbringbar ist. Es ist eine realistische Alternative im Altgebäudebestand, eben auch für die Ölheizung. Ein kostengünstiger und kontinuierlicher Wandel ist somit für den Kunden möglich.“ 

Ergänzend dazu verwies Thomas Kienberger auf den hohen Beitrag des Gases zur Deckung des Primärenergiebedarfs in Österreich (90 TWh von 400 TWh gesamt, im Vergleich dazu: Strom mit 70 TWh) und gab an, dass basierend auf Modellrechnungen der Bedarf in Zukunft sogar steigen wird. Jedoch stelle die künftige Aufbringung erneuerbarer Gase die Forschung und die Industrie Europas vor große Herausforderungen. Notwendige außereuropäische Importe werden nicht ausbleiben. Bezogen auf das Heizen mit erneuerbaren Gasen meinte Thomas Kienberger: 

„Die Frage des Nutzens von erneuerbaren Gasen beim Heizen ist vor allem eine energieraumplanerische. In manchen Gebieten ist das sicher sinnvoller als in anderen.“

Da das Thema Wasserstofftechnologie momentan in aller Munde ist, kam es zu folgender Publikumsfrage: „Wer wäre in Österreich prädestiniert für den Betrieb von H2-Elektrolyseanlagen?“ 

„Es geht nicht so sehr darum wer diese Anlagen betreibt, sondern wer sie errichten soll. (…) Das Marktsystem dafür muss sich rechnen. Systemische Planung ist wichtig – die geht mir oft ab. Diese Assests sind sehr kostspielig und langlebig. Eine Option wäre es, die Errichtung einem regulierten Bereich zu überlassen, sodass dies gleichzeitig mit dem Netzausbau passieren kann.“

so Gerhard Christiner. Martin Graf hakt an dieser Stelle ein: 

„Die Politik hat es leicht, die Ziele zu setzen und notfalls dann auf die nächste Regierung zu verschieben. Wir müssen in unseren Unternehmen Dinge umsetzen und brauchen dafür Budgets, Planbarkeit und Investitionssicherheit.“ 

Laut Alexander Kirchner ist eine Zukunft zum Thema Wasserstoff und erneuerbarer Gase denkbar, 

„momentan sind jedoch (die) Rahmenbedingungen für eine sichere Finanzierung einfach noch nicht wirtschaftlich genug bzw. noch nicht darstellbar.“

 Somit manifestierte sich im Podium der Konsens, dass es für diese und ähnliche erneuerbaren Technologien unbedingt Planbarkeit und klare Rahmenbedingungen brauche, um zu einer wirtschaftlich und energiesystemtechnisch sinnvollen Erfüllung der von der Politik vorgegebenen Ziele zu kommen.

Als letzter Speaker wurde Martin Graf von der Energie Steiermark mit folgender Frage konfrontiert: Der für die Mission 2030 forcierte Ausbau der Erneuerbaren stellt für die Netze eine große Herausforderung dar. Stellen Großprojekte wie die geplanten Solarparks in der Steiermark eine Gefahr für die Netze dar und können vernetzte Energiesysteme und intelligentes Management das Verteilernetz entlasten? Bezüglich der Auftragslage von Großprojekten bezog sich Martin Graf auf die Situation in der Oststeiermark. Derzeit belaufe sich die Gesamtanfrage an PV-Anlagen auf über 
500 MW neuinstallierter Leistung. Der gleichzeitige Netzausbau müsse hier jedoch unbedingt miteingeplant bzw. koordiniert werden.

 „Jetzt stellt sich die Frage, wer ist schneller? Wir haben ein zeitliches Synchronisationsproblem, welches im EAG (Ergänzung der Redaktion: Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz) und in der politischen Diskussion leider völlig vernachlässigt wird.“  

Neue Marktteilnehmer, wie z.B. E-Mobilität fordern eine Forcierung von neuen Energiegemeinschaften, die von Netzbetreibern wie der Energie Steiermark ermöglicht werden sollen. Jedoch gäbe es bis dato kaum Entwürfe und Diskussionen wie diese in den Marktregeln abgebildet werden sollen. Der Ausbau der Erneuerbaren fordert große Investitionen vor allem in die Netzinfrastruktur. 

“Jetzt kommt ein Investitionsturbo, den es in den letzten 30 Jahren in der Energiewirtschaft nicht gegeben hat!“

Dieser soll gerade jetzt in Zeiten aufkommender Wirtschaftskrisen Wertschöpfung und Beschäftigung schaffen. Dazu brauche es aber Spielregeln, wie etwa systemisch übergreifende Planungsprozesse und eine Abstimmung mit vor- und nachgelagerten Netzbetreibern. Resümierend meint Martin Graf:

Power grid on the edge? Ich glaube die Netze sind technisch gesehen noch nicht an der Kante. Derzeit besitzen unsere Netze noch Kapazitäten, welche aber, zwecks des massiven Anstiegs an neuer Leistung aus Erneuerbaren, unbedingt erhöht werden müssen. Sind wir an der Kante ökonomisch gesehen? Wenn regulatorisch gesehen nur „alten Wein in neuen Schläuchen machen“ (…) und die einzige Idee eine Zinssatzerniedrigung ist, (…)  (so sind Großinvestitionen) noch nicht finanzierbar, dann ist es für ein Unternehmen schwierig über eine vernünftige Eigenkapitalquote zu verfügen.“ 

Damit ist gemeint, dass es unbedingt neue Ideen zu einem attraktiveren Marktmodell, für sowohl Kunden als auch Unternehmen, brauche. Ansonsten wären die notwendigen großen Investitionen schwer zu realisieren.

Zum Abschluss noch die direkten Appelle des Podiums an das Publikum:

 „Wir sehen Beharrungskräfte der Bevölkerung (Ergänzung der Redaktion: gegen den Ausbau der Erneuerbaren), viele sehen aber nicht was die Folge ist: unglaubliche Klimafolgekosten, die dann auf uns zukommen. Ich bin in Leoben von jungen Leuten umgeben (…), die das bereits verstanden haben, (…) diese jungen Leute müssen es schaffen, dass es in der Bevölkerung so etwas wie einen „Mindset-Turbo“ gibt.“

Thomas Kienberger

 „Ich glaube jeder der heute zugehört hat, hat erkannt, da ist noch sehr viel Potential in die Tiefe. Es sollte speziell für alle jungen Studenten, die zugehört haben, eine Anregung sein, sich für dieses Thema weiterhin zu begeistern (…) und sich im Energiesystem zu engagieren.“

Gerhard Christiner

„Die Energiewende ist die heutige Version der Mondlandung – was damals undenkbar schien, wurde möglich gemacht. (…) Bitte meldet euch, wir suchen junge Leute wie euch, um diese Aufgabe zu bewältigen!“

Alexander Kirchner

Werdet Naturwissenschaftler, werdet Techniker! Nicht nur bei der Gestaltung der Energiezukunft mitreden, sondern selbst aktiv mitgestalten!“

Michael Haselauer

„Wir bei der Energie Steiermark sind Partner einer grünen Zukunft – packen wir´s gemeinsam an! Wir brauchen Leute wie euch, die sich für dieses Thema interessieren und dafür brennen.“

Martin Graf

An dieser Stelle dürfen wir uns nochmal herzlich bei allen Teilnehmern, sowohl dem Podium als auch dem Publikum, bedanken. 43 Teilnehmer aus Unternehmen, 22 Universitätsangestellte und 111 interessierte StudienkollegInnen waren uns zugeschalten – insgesamt 176 Teilnehmer! Das große Interesse bestätigt uns sehr und wir freuen uns auf zukünftige Veranstaltungen! Bei Fragen oder Feedback sind wir unter kontakt@energietechnik-leoben.at für euch erreichbar. 

In diesem Sinne – stay healthy, stay interested!
Verein der industriellen Energietechniker Leoben

Leoben, 30. November 2020

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